3 MINUTEN MIT ZBINDEN
Kapitel 27
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Jura






Drei Zeichnungen und drei Holzstiche
von Emil Zbinden neben Textfragmenten
aus: Michel Bühler, Jura (1)
Zwei verschiedene Länder, zwei benachbarte Hochebenen, getrennt durch Wälder, durch Hügelzüge. Die Landschaften gleichen sich…
Beidseits der Grenze liegen Strassendörfer. Die Siedlung hat sich also nicht nicht rund gebildet oder sternförmig um einen Dorfplatz, eine Kirche, ein Schloss. Sie hat sich in die Länge gezogen, auf beiden Seiten einer Strasse.
Wie wenn man sich anfänglich nicht hätte niederlassen wollen, um an diesem Ort zu bleiben, um sich hier anzusiedeln.
Alte Trockensteinmauern, zum Teil eingestürzt, verlieren sich als graue Linien, die immer dünner werden, in den grünen Rundungen der Wiesen. Wie viele Jahre schon sind sie nicht mehr unterhalten worden? Um die Grenzen ihrer Felder zusätzlich zu markieren, auch um ihre Herden zurückzuhalten, haben die Bauern Buchenpflöcke darauf eingeschlagen und mit Stacheldraht verbunden.
***
Die Wirtschaft des Jura stützte sich nicht auf die Ausbeutung eines einzigen Rohstoffes wie der Kohle oder des Eisens. Wir erlitten daher nicht das tragische Los Lothringens oder des Nordens.
Der Wandel, um es vorsichtig zu sagen, hat sich bei uns stiller vollzogen. Wenn ein Betrieb Konkurs machte oder seine Aktivitäten anderswohin verlegte, fanden sich höchstens einige hundert Arbeiter auf der Strasse wieder. Das war in der Zeitung keine Schlagzeile wert.
Die Patrons haben die digitale Revolution nicht kommen sehen. Die Uhrenindustrie, Hauptgewerbe im Jurabogen, wurde mit voller Wucht geschlagen. Als die elektronischen Uhren aus Asien den Markt überfluteten, rangen unsere Uhrmacher nach Luft. Andernorts sind es die Schreibmaschinen, die Fotoapparate, die Strickmaschinen, die verschwanden.
Ich erinnere mich an den Streik bei Dubied im Val de Travers, an eine Demonstration in den Strassen von Sainte-Croix. Fünfhundert Leute forderten vom neuen italienischen Inhaber zuerst die Wahrheit über ihre Zukunft, dann das Recht auf Arbeit im Land.
Ich behalte in meinem Gedächtnis den langen Kampf der Uhrmacher bei Lip in Besançon. Sie haben einen Sommer lang und noch länger gekämpft, um ihren Betrieb zu retten. Ihr Wortführer hiess Charles Piaget, ein grosser Mann mit schwarzem Haar. Wer erinnert sich an ihn? Was ist aus ihm geworden?
***
Schlechtes Wetter für Kunstmaler…
Auf tausend Metern über Meer sind wir eingehüllt in dichten Nebel. Die Sichtweite ist auf wenige Schritte reduziert. Man erahnt gerade noch die Häuser auf der anderen Strassenseite. Grau und undeutlich treten die Passanten aus dem Nichts. Die Züge werden schärfer, und man erkennt seinen Nachbarn. Kaum hat man sich begrüsst, verschwindet er wieder in der grauen Watte. Wer weiss, wohin er geht, ob es ihn noch gibt…
Je nach Wind und Wärme kann es vorkommen, dass die Wolkenschicht sinkt. Dampfartig hängen noch Fetzen an Dächern. Nach und nach erscheint als bleiche Scheibe die Sonne. Der Nebel reisst auf. Ein Stück blauer Himmel erscheint. Ein Windstoss noch, und der Nebel zieht sich zurück. Wir bleiben in wohliger Wärme zurück. Unter uns das Nebelmeer.
(1) Michel Bühler. Jura. Textes
Orbe 2012, Bernard Campiche Éditeur
Originalausgabe:
„Jura“, textes de Michel Bühler, illustrations du peintre Pierre Bichet
Sainte-Croix et Pontarlier:
Presses du Belvédère, 2005
Michel Bühler (1945-2022) war ein Schweizer Chansonnier und Schriftsteller.
Übersetzungen aus den Kapiteln:
Deux hauts plateaux/Zwei Hochebenen
Village-rue/Strassendorf
La grande mutation/Der grosse Wandel
La mer de brouillard/Nebelmeer
Wir danken dem Verlag Bernard Campiche für die Erlaubnis,
Stellen aus dem Buch von Michel Bühler zu übersetzen.
pst
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